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Roadster zur See

Die Tide 36: Auch bei Kälte und trübem Wetter ein Erlebnis

48-Stunden-Test der Tide 36

Es gibt Menschen, die fahren einen Audi Q7. Oder andere SUVs. Der Trend hält nun bereits seit 20 Jahren an. Es handelt sich weder um eine automobilistische Eintagsfliege noch um ein Experiment. Und sicher lassen sich viele gute Gründe für so ein Auto finden: Der gute Überblick von der erhöhten Sitzposition aus, hohe Zuladung mit Menschen und Gepäck. Eine vermutlich ordentliche Zugkraft an der Anhängerkupplung. Und sicher noch viele andere Punkte, die ich übersehe. Was ich nicht übersehe: Diese Autos sind groß. Sehr groß. Überall. Das kann praktisch sein. Aber es ist nicht schön. Diese Autos sprengen oft die ästhetischen Regeln eines klassisch schönen Automobils. In historischen Stadtbildern zum Beispiel von Münster, Lemmer oder Emden wirken sie wie ein Fremdkörper.

Wo wir gerade über Emden sprechen: Aus Emden kommt mit der Tide 36 eine moderne Segelyacht, die sich der SUV-Isierung des Bootsbaus entgegenstellt. Sie ist vollständig anders. Dabei ist sie mit 36 Fuß eine ausgewachsene Yacht, kein Daysailer, der sich vor allem auf Eleganz und gute Segelleistung konzentriert. Nun habe ich keine Ahnung, welches Auto der Konstrukteur der Tide 36, Marc-Oliver von Ahlen, fährt. Aber man ist mit Blick auf das Boot versucht, an einen Roadster zu denken.
Wie auch immer: Mit der Tide 36 hat er für die Werft MFH in Emden kein schwimmendes Wohnmobil für den sechsköpfigen Herrentörn gezeichnet. Sondern ein ästhetisches Angebot an eine Zweiercrew.
Die Tide 36 liegt nach der InterBoot 2023 am Bodensee. Im Spätherbst kann ich sie testen. Wobei Spätherbst den ersten November meint. Es ist usselig, wie man in Westfalen sagt, naß-kalt mit Betonung auf beiden Wortbestandteilen. Beste Voraussetzungen also für einen 48-Stunden-Test von LOGGE & LOT. Wir wollen die Yacht natürlich segeln, aber Maße, Wendewinkel und Geschwindigkeiten sind diesmal zweitrangig. Wir wollen das Boot im Segleralltag erleben. Deshalb wird die Tide 36 für knapp drei Tage und zwei Nächte mein maritimes Zuhause.
Bevor es aber los geht, muss ich versuchen, meinen Mitsegler zu ersetzen. Chris ist am Morgen meiner Abfahrt in Münster wegen Corona ausgefallen. Ich stehe also allein da. Das wäre nicht so schlimm – aber gleichzeitig zu segeln, dabei zu fotografieren und noch den Überblick behalten? Da wäre es schon prima, ein paar Hände mehr an Bord zu haben. Am Seeuferweg in Bodman treffe ich nach achteinhalb Stunden Autofahrt ein Paar, das mir beim Taschenschleppen zusieht. „Na, jetzt muss alles raus?“ werde ich gefragt. „Nee, jetzt muss alles rein“, kommentiere ich die freundliche Frage. Wir kommen ins Gespräch. Markus und Martina kommen aus Bayern. Sie sind auf Verwandtenbesuch am Bodensee, die Heimat seiner Kindheit.

Die Tide am Steg entdeckt
Und natürlich haben sie die Tide 36 längst entdeckt. Am Steg fällt sie auf, auch wenn sie den äußersten Liegeplatz belegt und vom Nachbarboot nahezu verdeckt wird: Der elegant lackierte Mast. Der grüne Rumpf. Na klar. Beide sind begeisterte Segler. Und das ist meine Chance. Ich lade sie ein, morgen mit dabei zu sein. Am späteren Vormittag soll es losgehen. Kein Stress. Markus und Martina haben Urlaub.
Für mich bleibt also Zeit genug, die Yacht in aller Ruhe zu erkunden. Vor allem innen – denn es wird jetzt langsam dunkel. Als erstes verstaue ich meine Sachen, darunter reichlich warmes Zeug, denn man weiß ja nie. Die Tide 36 verfügt für eine Zweiercrew über absolut ausreichenden Stauraum für eine mehrwöchige Tour. Selbst, wenn die Hundekoje belegt sein sollte, muss man keine T-Shirt-Wuhling befürchten. Die Schränke bieten angemessenen Platz für sämtliche Kleidung, außerdem gibt es Schaps im Salon, die Vorräte und den üblichen Kleinkram gut wegstauen. Die Pantry – wir werden darüber noch zu reden haben – hat Platz für Gewürze genausogut wie für Öl und Essig in Flaschen. Der Kühlschrank ist ein gut bemessener Toplader. Ruckzuck sind die Taschen leer, das Ölzeug hängt schon im Bad in der separaten Aufhängung.
So, und jetzt? Licht an! Aber Hallo! Die Werft hat die Tide 36 nicht einfach mit Lampen ausgestattet. Das Boot verfügt über ein ausgeklügeltes Lichtkonzept. Die indirekte Beleuchtung unter den Salon-Sitzbänken strahlt auf den Holzboden und taucht das Boot in einen warmen Lichtton, der mich fast vergessen läßt, dass es draußen nur 6 Grad kühl ist und ich mal nach der Heizung schauen könnte… Doch weiter: Die Salondecke ist mit Strahlern ausgestattet, die allesamt neben einer warmweißen Lichtfarbe auch auf augenschützendes Rot eingestellt werden können. Das funktioniert auch bei der Leselampe an der Vorschiffskoje.

Ein Day- and Night-Sailer
Eigentlich eine technische Kleinigkeit, aber doch auch eine Freude und ein Fingerzeig, dass die Tide eben nicht nur für die schnelle Runde am Samstagnachmittag gedacht ist. Offenbar ein Day- and Night-Sailer!
Inzwischen läuft die Heizung. Ob das Warmluft-System die Yacht wirklich gemütlich warm bekommt und warmhält, ist angesichts der weit fortgeschrittenen Saison keine unbedeutende Frage. Luftauslässe gibt es neben der Pantry, an den Salonbänken, im Bad und in der Vorschiffskabine. Selbstverständlich kann man auch mit eiskalten Tropfsteinhöhlen segeln. Aber die wenigsten von uns wollen das. Eine funktionierende Heizung und eine solide Isolierung einer Yacht sind deshalb eine strategische Frage beim Bootskauf: Bin ich nur Schönwettersegler von Ende Mai bis Anfang September? Oder kann ich der Nebensaison-Ruhe vieler Reviere einen besonderen Zauber abgewinnen? Dann aber brauche ich nicht nur ein exzellent segelndes Boot, das auch bei Starkwind sicher und verlässlich von einer kleinen Crew zu handhaben ist. Ich brauche vor allem einen Rückzugsort, an dem ich der wechselhaften Witterung und nasser Kleidung entkomme. Eine gute Heizung verdoppelt damit die Länge der Saison – und sie halbiert eigentlich den Kaufpreis. Ich greife etwas vor: In der Nacht war es angenehm warm, und nach erholsamem Schlaf sehe ich, dass ich nichts sehe: Kein Kondenswasser an den zugänglichen Rumpfteilen, alles trocken, nur die Fensterscheiben sind benebelt. Die Tide ist ein überzeugender Saisonverlängerer.
Zurück in den Salon. Hier dominieren drei Farben. Bis etwa zur halben Höhe die Kirschholztöne des Tisches und der Furniere am Schott. Darüber eine cremefarbene Lackierung. Dazwischen passen sich die grünen Stoffpolster der beiden Salonbänke ein. Nicht blau. Das ist auffällig und eine exzellente Entscheidung. Man darf die Farbgestaltung getrost als stimmig und harmonisch beschreiben. Aber das trifft es nicht wirklich. Mit einer frischen Tasse Kaffee, später mit einem Glas Rotwein sitze ich da, lese ein Buch und rätsele, was da gerade mit mir passiert. Gefühlsduselig-esoterisches Klimbim ist meine Sache nicht. Aber dieser Salon ist echt magisch. Ein Gefühl tiefer Ruhe und Zufriedenheit überkommt mich. Hier zu sitzen, zu lesen, die handwerklich wunderschönen Holzarbeiten zu betrachten, die ovalen Fenster und die Lack-Arbeit: Das könnte ewig so weiter gehen. Und es geht dann auch noch eine ganze Weile. Auf diesem Boot ist das faszinierende Kontrastspiel des Segelns zwischen dem sportlichen Draußen mit seinem unmittelbaren Naturerleben und dem heimeligen, geschützten und ruhigen Drinnen ganz außergewöhnlich herausgearbeitet. Dieser Salon ist ein Kleinod.
Die Schlafkammer ist großzügig, obwohl sich das Boot, das nur an seiner breitesten Stelle drei Meter misst, hier schon wieder verjüngt. Schön gearbeitete Schränke und Nachttische bieten Platz für alle Utensilien. Eine horizontal klappbare Schranköffnung an Backbord gibt mir allerdings Rätsel auf. In Verbindung mit dem fest eingebauten gepolsterten Hocker könnte dies einen kleinen Schreibtisch abgeben. Aber fehlt dazu nicht ein (klappbarer) Fuß? Vielleicht läßt sich das Rätsel noch lüften. Die Kojen sind ausreichend breit und – auch hier wieder mit indirekter Beleuchtung – einladend.
Das Bad ist üppig bemessen, für meinen Geschmack fast zu üppig. Es gibt sehr reichlichen Stauraum. Die Segelkleidung müsste man beim Duschen umhängen, hier würde sie jetzt naß. Ich verzichte heute auf die Dusche. Die eingebaute Toilette ist elektrisch und funktioniert super – wenn man es geschafft hat, die lächerlich kleine Beschriftung der Knöpfe zu entziffern. Liebe Hersteller von Yachtausrüstung: Ein wesentlicher Teil eurer Kundschaft ist im Lesebrillen-Alter. Die wenigsten gehen aber mit Lesebrille zur Toilette…! Im Bad legt die Heizung noch einmal ganz besonders zu. So kann Regenbekleidung schnell trocknen. Dazu wäre aber eine Lüftungsöffnung ganz nützlich. Sie fehlt und müsste hier dringend nachgerüstet werden. Das Bad über den Salon zu lüften, ist lebenspraktisch keine wirkliche Option.
Frisch gewaschen stehe ich in der Pantry, die sich sehr ernst nimmt: Der halbkardanisch aufgehängte Ofen verfügt über drei Flammen und einen Backofen.
Hier kann man nicht nur Kaffee kochen. Wer in Häfen gern frischen Fisch und Gemüse der Region kauft, über Märkte schlendert und regionale Spezialitäten testen will, ist mit dieser Pantry gut aufgestellt. Vielleicht wäre eine Vergrößerung der Arbeitsfläche durch eine Spülenabdeckung oder ein angehängtes Arbeitsbrett eine gute Option. Dann aber steht einem echten Kochvergnügen nichts im Wege. Im Laufe des Tages nutze ich den Herd zwar weniger ambitioniert, aber gleichwohl herausfordernd: Bei Spaghetti-Test koche ich eine ordentliche Portion Nudeln – selbstverständlich bei geöffnetem Topf. So gehört es sich – und so entsteht ordentlich viel Wasserdampf. Denn den möchte ich haben, um noch einmal zu schauen, ob ich nicht doch eine Tropfsteinhöhle aus der Tide machen kann. Es gelingt mir nicht, Test bestanden!

Spaghetti-Test bestanden
Jetzt wird es aber Zeit, endlich mal raus zu kommen. Das Boot ist pitschnass, auf dem Bodensee hängt Nebel. Außer einer Reisegruppe Bleßhühner ist niemend zu sehen. Ruhe pur! Der Kork-Belag ist rutschfest, ich nehme die Persenninge runter und schlage die Segel an. Das geht alles ganz intuitiv, die Leinen sind in die Plicht verlegt, die Fallen laufen sauber, alles ist leichtgängig. Zwischendurch schiele ich leicht neidisch auf die Decksausstattung. Kein Spielzeug – auch wenn die hochglanzpolierten Anderson-Winschen durchaus zum Spielen verleiten. Und da stehen Marcus und Martina auch schon am Steg. Die wesentliche Herausforderung besteht darin, an Bord zu kommen. Diese sehr hohen Stege am Bodensee verlangen Seglern bei einem nicht zu hochbordigen Boot wie der Tide 36 Zirkuskünste ab.
Wir legen ab, und obwohl wir gar nicht eingespielt sind, läuft alles zunächst fein. Das verdanken wir vor allem der Tide, die sich rückwärts unter Motor sauber steuern lässt. Als sich eine Leine verhakt, ist das kein Malheur. Das Boot steht nach dem Aufstoppen präzise, die Leine kommt an Bord und es geht hinaus auf den See. Nur: Die Windgeschwindigkeit liegt gefühlt unter null. Mehr um es getan zu haben, hissen wir die Segel. Und siehe da: Aus einem leichten Zug macht die Tide 4 Knoten Speed. Wir kommen fix in Fahrt und finden noch etwas Brise. Mit 7 Knoten macht das Schiff Spaß: Es beeindruckt uns drei, wie schnell das Boot auch bei wenig Wind Geschwindigkeit aufnimmt. Und dazu braucht es nur das Groß und die Selbstwendefock. Die Steuerung ist präzise, die Pinne läßt sich mit leichter Hand führen. Mit der Selbstwendefock ist das Schiff problemlos einhandtauglich. Markus und Martina wechseln sich an der Pinne ab. Sie haben ein entspanntes Lächeln auf dem Gesicht. Das Boot macht Speed, Spaß und keinen Stress. Die Plicht bietet lange Cockpitbänke und ein geschlossenes Heck. Wir empfinden den „Arbeitsplatz“ als für drei Erwachsene geräumig, sicher und klar strukturiert. Erst als es für meine beiden Mitsegler dringend Zeit wird, ihre Nachmittagsverabredung einzuhalten, drehen wir um. Als die Segel unten sind, fahren wir noch ein paar Motormanöver vor dem Anlegen. Das Boot dreht auf dem Teller. Der Anleger gelingt uns Revierneulingen an dem sehr hohen Steg ohne großes Gehuddel.

Fazit
Der Show-Case der Tide ist bekannt für seinen sehr hochwertigen Holzausbau. Auch für ein paar Extravaganzen an Deck wie den grünen Rumpf und den cremeweiß lackierten Mast. All das ist schön und macht Freude. Der Kern der Tide ist das aber nicht. Maritime Faserverbundtechnik Haring, die Werft aus Emden, bietet mit der Tide eine Yacht an für Segler, die sich ein sicheres Stilgefühl bewahrt haben, die als kleine Crew ernsthaft segeln und komfortabel leben wollen, dabei aber keine optischen Kompromisse machen möchten. Die Tide ist auch in gepflegten historischen Häfen ein Hingucker, kein Weggucker. Mindestens von März bis November kann sie auch in unseren Breiten mit Spaß und Freude, komfortabel, warm und trocken gesegelt werden. Hier ist nichts Alibi, Show oder „Bauernblind“. Wer sich bei MFH das Boot konfigurieren lässt, kann womöglich auf Kirschbaum und den lackierten Mast verzichten. Unverzichtbar sind die überzeugenden Segeleigenschaften, eine Pantry fürs echte Leben, der „magische“ Salon, Platz in der Schlafkammer und eine saisonverlängernde Heizung. Ob das Bad so groß wie auf dem Testboot sein muss, ist diskutierbar – und wohl auch besprechbar. Spannend für alle Binnen- und Wattensegler: Es gibt auch eine Hubkielvariante, die den Tiefgang auf 1,05 Meter reduziert.
Segelfertig konfiguriert bietet MFH/Emden die Tide 36 zum Grundpreis von
320.000 Euro an.

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